2. Kapitel

Es war ein wunderschöner Tag zum Heiraten, wenn man auf so was steht. Für mich war es ungefähr die achtzehnte Hochzeit in diesem Jahr, aber trotzdem sehr nett. Ich denke, es war schon etwas Besonderes, weil es Tashys Hochzeit war. Und ich war heilfroh, dass Tashy mich nicht gedrängt hatte, ihre Brautjungfer zu werden. Mit sechzehn hatten wir das zwar so geplant, aber eine Braut über dreißig hat ohnehin schon alle Hände voll damit zu tun, jung und unschuldig auszusehen, auch ohne dass ihr eine alte verdrießliche Knusperhexe am Arm hängt, die versucht, locker mit den Platzanweisern zu plaudern und dabei das unüberhörbare Geflüster zu ignorieren (»Wie schade, dass sie noch nicht vergeben ist ...«, »Heutzutage lassen sich die jungen Dinger aber auch wirklich Zeit mit dem Heiraten ...«), und Tashys junge Nichte würde ihre Sache sicher großartig machen und frisch und wie süße sechzehn und viel zu aufgeregt aussehen, aber dabei so cool wie möglich bleiben - nicht viel anders als wir damals, ehrlich gesagt.

Die Kirche war kühl und hübsch. Wir schlüpften in unsere Bank ziemlich weit vorne und nickten und winkten allen zu. Von ihm noch nichts zu sehen, und meine Eltern sollten auch erst später kommen. Eine traditionelle englische Hochzeitszeremonie ist schon sehr ergreifend, und diese wurde wundervoll zelebriert, so schön, dass ich, als der Hochzeitsmarsch erklang, ein paar Tränen herunterschlucken musste. Olly warf mir einen vielsagenden Blick zu.

Tashy sah natürlich märchenhaft aus. Sie hat einen ausgezeichneten Geschmack, und ihre »Iss nichts, was nicht beschissen schmeckt«-Diät hatte augenscheinlich funktioniert.

Ihr elfenbeinfarbenes schmales Kleid, unter dem die bestickten Schuhe, die zu den langen Lilien ihres Brautstraußes passten, gerade so hervorschauten, war wirklich ausgesprochen geschmackvoll. Ich fragte mich kurz, ob sie wohl aus ihrem Kleid platzen würde, wenn sie sich nachher wie ein hungriger Wolf über die Vol-au-Vents hermachte, bis mir wieder einfiel, dass das Brautpaar bei der Hochzeit ja normalerweise daneben zu stehen und zuzusehen hatte, während die Gäste die teuer bezahlten Alkoholika und Fressalien in rauen Mengen vernichteten, damit nicht der Eindruck entstand, sie würden sich versehentlich amüsieren. Doch hier, im Frieden und in der Stille dieser alten Kirche, verging mir der Zynismus.

Die Eheversprechen waren sehr traditionell, und Max machte auch eine ganz passable Figur, als er mit rauer Stimme und vielen Ähs und Öhs antwortete - nicht, dass irgendjemand auf ihn geachtet hätte. Schon als Kinder war der Bräutigam für uns irgendwie immer auswechselbar gewesen. Barbie war diejenige, auf die es ankam. Ken war bloß Statist.

Immer wieder hatte ich den Blick schweifen lassen und die Reihen nach Clelland abgesucht, aber vergebens. Vielleicht war er der glatzköpfige alte Knacker da drüben ... oder der schrecklich fette Kerl im bunten Frack ...

»Lieber Gott, wie lange dauert das denn noch?«, wisperte Olly und zwinkerte mir zu, obwohl er das letzte Lied laut und schief mitgesungen hatte und sich offensichtlich ganz prächtig amüsierte. Ich schluckte schuldbewusst.

»Hoffentlich gibt‘s nicht zu viele Garnelen«, sagte Olly gerade, als wir in das große Festzelt gingen, das üppig mit Blumen und Schleifen dekoriert war. Die Sonne spiegelte sich in den Massen blank polierten Tafelsilbers und den funkelnden Gläsern, die nur darauf warteten, die ganze Nacht über nachgefüllt zu werden. Eine Milliarde Fotos später, und ich hatte Clelland immer noch nicht gesehen.

»Oder irgendwas mit Nüssen. Oder Salatcreme.«

»Ich bin sicher, die Blythes sind viel zu vornehm für Salatcreme«, entgegnete ich und drückte ihm freundschaftlich die Hand.

Olly ist der heikelste Esser, den ich je in meinem Leben kennen gelernt habe. Ich dachte, das würden sie einem im Internat gründlich austreiben, doch da hatte ich mich offensichtlich geirrt, denn er verweigerte fast alles Essbare bis auf Käse und Fischstäbchen, wofür er verschiedene fadenscheinige Gründe vorschob.

»Na, du weißt doch, dass ich von zähflüssigem Zeugs Magenprobleme bekomme.«

»Du bekommst von allen Flüssigkeiten Magenprobleme.«

»Aber bei diesem Schwabbelzeugs ist es am schlimmsten.«

Ich warf einen kurzen Blick auf die Hors d‘ oeuvres, die in unsere Richtung kamen. Hervorragend - Würstchen am Spieß, mit leicht dekadentem Sesam-Überzug. Die wären okay, er musste bloß die Körner abpulen. Und ich dachte mir, ich sollte mich wohl lieber mal bei der Braut blicken lassen, sobald ich meine Hälfte Mir blieb das Herz im Halse stecken. Da war er, ungefähr drei Meter entfernt. Clelland. Sah genauso aus wie früher. Ja, wenn überhaupt, dann sah er höchstens noch jünger aus. Dann drehte er den Kopf weg und verschwand im Gedränge.

»O mein Gott«, sagte ich.

»Meine Rede. Sesamwürstchen«, stimmte Oliver mir betrübt zu.

»Nein, nein. Ich habe bloß einen alten Freund gesehen. Ich muss mal rübergehen und ... äh, hallo sagen.«

»Okay. Ich geh mal zu Max und klopfe ihm fest auf die Schulter, um ihm auf unschwule Art zu sagen, dass er sich wacker geschlagen hat«, erklärte Oliver.

Ich ging dorthin, wo ich Clelland gesehen hatte. Doch schon auf dem Weg wurde mir klar, dass hier was faul war.

Wollte mein Gehirn mir einen Streich spielen? Wie konnte hier eine so exakte Kopie eines Mannes herumlaufen, den ich seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte? Ich meine, schließlich verändert man sich doch im Laufe von sechzehn Jahren, oder nicht? Alles andere war vollkommen unmöglich. Ich meine, ich selbst hatte mich natürlich auch kaum verändert, dank den Wundern der modernen Kosmetik ... na ja, vielleicht ein bisschen. Ich musste plötzlich schlucken und strich mir das Haar glatt. Hatte er vielleicht irgendwo ein Bild auf dem Speicher stehen, das langsam vergammelte?

Dann entdeckte ich das dunkle Jackett wieder. Mit dem Rücken zu mir redete er mit einer der Kellnerinnen. Ich holte tief Luft und ging auf ihn zu.

»Ahm ... hallo!«

Der Mann drehte sich um, und augenblicklich wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Die Ähnlichkeit war allerdings absolut verblüffend. Mein Gegenüber starrte mich an. Es war kein Mann, er war nicht viel mehr als ein Junge.

»Entschuldigen Sie, aber ... also, Sie kommen mir irgendwie so bekannt vor.«

»Ich bin Flora Scurrison«, sagte ich argwöhnisch.

Er runzelte die Stirn, so angestrengt dachte er nach, doch dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »O mein Gott! Erinnern Sie sich denn nicht mehr an mich?«

Irgendwas klingelte in meinem Hinterkopf.

»Justin!«

Justin, Justin ...

Und dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag.

»O mein Gott.«

»Ja!«

»Du bist Clellands kleiner Bruder.«

Der mit dem Babyfon.

»Ja! Ich kenne Sie von den Fotos.«

»Ich bin so alt«, sagte ich, fast ohne es zu merken.

»Alle kommen dauernd an und sagen mir, ich wäre ja so groß geworden. Ich bin fast siebzehn. Fast erwachsen also.« Auf einmal wirkte er ziemlich missmutig, was mich unweigerlich an Clelland erinnerte.

»Du siehst deinem Bruder wirklich sehr ähnlich.«

»Tu ich nicht.«

»Tut er nicht«, sagte eine tiefe Stimme.

Ich blickte hoch.

»Hallo, Flora. Justin, zieh Leine.«

»Immer behandelst du mich wie ein kleines Kind«, murrte Justin.

»Ja, weil du dauernd schmollst und motzt.«

Schmollend und motzend schob Justin ab.

»Der kriegt sich schon wieder ein. Er muss neunmal am Tag essen, also ist er am Büffet vermutlich am besten aufgehoben.«

Clelland war ... na ja, es wäre unmöglich gewesen, ihn irrtümlich für irgendjemand anderen zu halten als ihn selbst.

Er war kräftiger geworden, klar. Unmöglich hätte er so lächerlich dünn bleiben können wie als Teenager. Das konnte nur David Bowie, aber sonst niemand. Aber seine schwarzen, verstrubbelten Haare waren noch genau wie früher.

»Ich dachte, er wäre du«, erklärte ich. Mehr als diesen kurzen Satz traute ich mich noch nicht zu sagen.

»Herrje, wirklich?« Er guckte seinem Bruder hinterher, wie er davonlatschte. »War ich in dem Alter auch so ein schlapper Gartenzwerg?«

»Nein, viel schlimmer!« Ich stieß ein ziemlich merkwürdiges, halb ersticktes Lachen aus. »Zumindest trägt er kein Morrissey-T-Shirt. Und das jeden Tag!«

»Das war mein Lieblings-T-Shirt.«

»Ich weiß.«

Ich streckte die Hand aus. »Clelland, schön dich zu sehen.«

»O Gott, sag bitte John. Keiner nennt mich mehr Clelland.«

»Tatsächlich? Ich dachte, du würdest dich niemals in spießbürgerliche Namenskonventionen zwängen lassen.«

»Ach ja? Und schreibst du deinen Namen immer noch P-f-l-o-w?«

»Nein«, sagte ich und wurde puterrot.

»Und ... was hast du so getrieben?« Er sah ... er sah einfach toll aus. Und wirkte amüsiert, mich zu sehen.

»Och, alles Mögliche«, sagte ich nonchalant, während er einen mit Tablett vorbeigehenden Kellner um zwei Gläser Champagner erleichterte.

»Ach ja?«

»Nein!«, sagte ich. »Na ja, ich bin zur Uni gegangen, dann habe ich einen Job bekommen und bin wieder nach London gezogen.«

»Macht immerhin drei Dinge.«

»In einer ziemlich langen Zeit.«

Einen Moment lang standen wir schweigend da.

»Und was hast du so gemacht?«, fragte ich verlegen.

Ich war erstaunt, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass Justin am Büffet Olly getroffen hatte und ihn auf verschiedene Köstlichkeiten hinwies.

Clelland - John, aber irgendwie war er für mich immer noch Clelland - zuckte die Achseln. »Tja, ich bin nach Aberdeen gegangen.«

»Daran erinnere ich mich«, sagte ich leise.

»Ja, natürlich«, erwiderte er und blickte kurz ganz betreten drein, und mir fiel ein Stein vom Herzen. So, wie dieses Gespräch bisher verlaufen war, hatte ich mich schon gefragt, ob ich mir unsere kleine Romanze bloß in einem Zustand geistiger Umnachtung zusammengesponnen hatte und wir in Wirklichkeit nur flüchtige Bekannte waren, die sich heim Ball des Rotary Clubs Guten Tag sagen.

»Dann war ich ein paar Jahre beim Freiwilligen Entwicklungsdienst - ich wollte raus aus England und was von der Welt sehen, verstehst du?«

»O ja. Wohin hat es dich denn verschlagen?«

»Afrika.«

»Wow, das ist ja der Wahnsinn!«

»Es war die Hölle. Ich habe die Tage gezählt, bis ich wieder nach Hause durfte. Am liebsten hätte ich mir Malaria eingefangen, damit es schneller geht.«

»Gott, ich habe mir seit Ewigkeiten nicht mehr gewünscht, du wärst tot«, brach es aus mir heraus, ehe mein Gehirn sich einschalten konnte. Kein guter Moment. Olly kam zu uns rübergetapst.

»Herrgott, Flo, ich finde hier keinen Krümel Essbares. Hast du gesehen, dass da Mandeln im Salat sind? Man könnte doch annehmen, die würden ein paar Fischstäbchen anbieten, nur für alle Fälle. Das wird hier noch schlimmer als bei der Stricklands-Hochzeit, und da musste ich mich übergeben.«

»Du warst betrunken.«

»Lieber Himmel, ja und?«

Clelland runzelte die Stirn.

»Das ist Oliver«, stellte ich ihn vor. »Mein, äh, Freund,«

Warum das »äh«? Ich war mir bewusst, dass ich möglicherweise nicht ganz so begeistert klang, wie ich klingen könnte.

Clelland streckte die Hand aus. »Hi.«

»Hi«, sagte Olly und schüttelte die angebotene Hand.

»Clelland ist ein alter Schulfreund.«

Ich hatte Olly nie was von Clelland erzählt. Zuerst, weil ich mich an die völlig bescheuerte »Laber deinem neuen Freund nicht die Ohren von deinen Exfreunden voll, sie sollen denken, du wärst noch Jungfrau«-Regel hielt. Und dann ... na ja, manche Dinge sind einfach Privatsache. Außerdem glaube ich, wenn wir alle wüssten, wie andere sich als Teenager aufgeführt haben, dann würde niemand mehr mit irgendwem ausgehen.

»Nett, Sie kennen zu lernen«, brummte Olly.

Als ich die beiden so nebeneinander stehen sah, überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl. Ich verglich die beiden nicht miteinander. Ganz bestimmt nicht. Hier ging es nicht um Wettbewerb. Clelland könnte sich immerhin noch als totaler Scheißkerl entpuppen.

»Olly ist Anwalt«, versuchte ich das Gespräch in Gang zu halten.

»Ach, tatsächlich? Und ich habe Ihnen die Hand gegeben«, sagte Clelland mit einem Lächeln.

Ich hatte ihn noch nicht oft lächeln gesehen. Stadtrebellen lächeln schließlich nicht besonders oft. Die reden dauernd über Selbstmord und Leonard Cohen. Es war wunderbar. Seine Zähne waren ein bisschen schief, und die Eckzähne zeigten etwas nach innen.

»Oje, das tut mir aber Leid. Aber von unserem Laden werden Sie nur aufs Kreuz gelegt, wenn Sie Multimillionär sind«, sagte Ol. »Bloß der sechste Kreis der Hölle, so gesehen.«

»Sie gehören also nicht zu diesen Typen, die im Fernsehen dafür werben, dass fette Ladys, die im Büro vom Stuhl fallen, ihren Chef verklagen sollen?«

»Nein. Obwohl ich Flo natürlich helfe, wenn so was zu Hause passiert«, erwiderte er grinsend.

»Ja«, sagte Clelland wie jemand, dem man einen geschmacklosen Witz erzählt hat. Ich wusste nicht, ob er es lustig fand oder nicht.

»Was machen Sie denn beruflich?«, erkundigte sich Olly, während er mit einem Auge auf einen Kellner schielte, der mit einer Schale Krabbentoast an uns vorbeiging. Schnell griff er sich vier Stück davon.

»Wieso kannst du Sesam auf Toast essen, aber nicht auf Würstchen?«, fragte ich ohne nachzudenken. Die beiden Jungs sahen mich an.

»Weil es Toast ist«, antwortete Olly, als müsse er es einer Vierjährigen erklären. »Mit Toast kann man alles Mögliche anstellen.«

Clelland streckte mir die Unterlippe raus.

»Ahm ... ich bin ethischer Logistiker.«

»Bitte was?«, fragte ich.

»Oh. Treten Sie oft auf der Bühne auf?«, erkundigte Ol sich. »Mit Marionetten und so?«

»Nein ...«

»Okay, was dann?«

»Tja, also, ich versuche, Hilfsgüter auf dem besten und schnellsten Weg ans Ziel zu bringen. Versuche die Gefahr herunterzuspielen, dass unsere Mitarbeiter von einer feindlichen Armee entführt werden, all so ´n Kram.«

Ich gebe es zu. Mein Herz machte einen Satz. Genau das hatte er auch in meinen Träumen getan. Das, oder irgendwo als abgerissener tragischer Poet a la Moulin Rouge gehaust, was ja auch nahe liegend war, aber das jetzt - so heldenhaft, uneigennützig, männlich und plötzlich sah ich ihn vor meinem inneren Auge auf einem Elefanten stehen, warum auch immer. Und dann, ich schäme mich, es zuzugeben, sah ich mich als Meryl Streep in Jenseits von Afrika-mäßigem Leinenoutfit die Zeilen sagen: »Ich hatte eine Farm in Afrika ...«

»Es hängt mir zum Hals raus«, sagte Clelland. »Ist ein beschissener Job.«

»Ehrlich? Klingt aber interessant«, erwiderte Olly.

»Das sagen alle.« Er fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Alles bloß endlose Regierungsbehördenbürokratie, und wie viel Gutes wir letzten Endes damit tun, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Wirklich besser wird die Welt dadurch jedenfalls auch nicht. Oje, tut mir Leid. Bin ich gerade etwas zu deprimierend für eine Hochzeit? War ich früher auch schon so?«

Er sah mich direkt an, aber ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. Reiß dich zusammen, befahl ich mir streng. Olly würde sonst bestimmt jeden Augenblick die Hitzeschwaden, die meinen Kopf umwaberten, mitbekommen und mir die Hölle heiß machen.

»Du warst noch schlimmer«, antwortete ich.

Auf Heathers Hochzeit kurz vor meinem Geburtstag hatte ich hemmungslos mit dem Trauzeugen geflirtet, mit sämtlichen Platzanweisern eine heiße Sohle aufs Parkett gelegt und mir am Ende mit Clelland draußen am Springbrunnen eine Flasche Champagner geteilt, während der sich über die beschissene spießbürgerliche Pflicht zur Zwangsversklavung ausließ. Natürlich alles Käse. Reiner Zufall, dass es bei Tashys Schwester so gekommen war.

»Ich heirate nie im Leben«, sagte er, und mein kleines Teenagerherz wäre beinahe stehen geblieben. Was hatte ich mir nur gedacht? Dass wir zusammen nach Gretna Green abhauen würden? Warum hatte ich mir eingebildet, Männer, die zwei Jahre älter waren als ich, seien erwachsen? Weil ich es nicht besser wusste, vermutlich.

»Oh«, sagte ich und befingerte verlegen die welkenden Rosen in meinem Strauß. Dann tauchte ich, wie ich hoffte sehr verführerisch, die Finger in den Springbrunnen.

»Ritualisierte Versklavung«, knurrte er und zog mich in seine Arme. »Für Männer und Frauen.«

Seine lange schlanke Hand streifte die Oberkante der Spitze an meinem Kleid. Ich erbebte. Wir hatten schon heftig rumgeknutscht, stundenlang und mit allen Schikanen, aber trotzdem hatte ich schwerwiegende moralische Bedenken; ich wollte schließlich keine Schlampe sein, und die Warnungen meiner Eltern und diverser Anti-Aids-Kampagnen klangen mir noch in den Ohren, und auch als schwangeres Schulmädchen ohne Zukunftsperspektive mochte ich mich nicht sehen, und Schiss hatte ich außerdem, also war am Gummibund meines C&A-Höschens Schluss.

»Du bist wunderbar«, sagte er. Ich strahlte. Er nahm das als Vorwand, die Hand unter die sechzehn Lagen Tüll zu schieben, die ich anhatte. Nicht weiter verwunderlich, dass er sich auf dem Weg völlig verirrte, und die ganze romantische Szene am Springbrunnen drohte zu kippen, während wir weiterküssten und er verzweifelt nur wenig nördlich von meiner Kniegegend herumtastete, hoffnungslos in mein Kleid verstrickt.

Je hektischer er herumgrapschte, desto peinlicher wurde mir das Ganze. So stand das aber nicht in unseren geklauten Cosmo-Zeitschriften. Und in den Teenie-Serien wie Blutsbande oder Sweet Valley High sah das auch ganz anders aus.

»O Mann«, stöhnte Clelland vor Lust und Frustration.

Ich musste schlucken. Wir waren noch in dem Stadium des Küssens, wo man sich dauernd fragt, was man mit seiner Spucke machen soll.

»Ähm ...«, sagte ich.

Dann fand er es.

»Ooh!«, sagte ich.

Er sah mich an, aber sein Blick war ganz glasig, als könne er mich gar nicht richtig sehen.

Ich schluckte noch mal. »Ich kann nicht«, sagte ich entschlossen.

»Wie - überhaupt nicht, niemals?«, fragte er und sah mir in die Augen.

»Ich weiß nicht...«

»Tut mir Leid«, sagte er, »aber du bist doch m-meine Freundin, Flo, und ich d-dachte ...«

Er war so rot im Gesicht, dass ich fürchtete, der Kopf könnte ihm explodieren. Und dieses plötzlich auftretende Stottern tat nichts zu meiner Beruhigung. »Ich ... ich glaube nicht.«

»Natürlich«, sagte er.

»Alle zusammen! Brautjungfern! Platzanweiser!«, hörte ich Tashys Mutter vom Haus her rufen. »Kommt alle her! Wir schneiden den Kuchen an!«

Wir starrten uns an wie zwei aufgescheuchte Rehe. Clelland wollte seine Hand wegziehen, aber noch ehe er das konnte, war ich bereits aufgesprungen. Ich war so rosarot wie mein Kleid, als ich zum Haus lief und ihn einfach stehen ließ, und er blieb verwirrt zurück und blickte mir nach.

Heather sah bildhübsch aus, ihr Haar war noch genauso steif wie am Morgen, neigte sich aber inzwischen bedenklich nach links.

Sie legte ihre Hand auf die von Merrill. Der Kuchen war ein grotesker, sechsstöckiger Albtraum in Pink, aus dem an allen Ecken und Enden Blumen sprossen. Ich schloss fest die Augen.

»Was machst du denn da?«, flüsterte Tashy, die ich zum Glück gleich gefunden hatte, als ich wieder hereingekommen war.

»Mir was wünschen, wenn sie den Kuchen anschneiden.«

»Man kann sich doch nichts wünschen, wenn eine Hochzeitstorte angeschnitten wird. Du verwechselst das mit dem Kerzenauspusten auf dem Geburtstagskuchen.«

»Man kann sich sehr wohl was wünschen«, widersprach ich ziemlich angesäuert.

»Selbst wenn, dann hättest nicht du einen Wunsch frei, sondern das Brautpaar, das sich dann haufenweise Kinder oder so was wünschen könnte. Igitt! Stell dir mal Heather mit Babys vor!«

»Igitt!«, stimmte ich ihr lächelnd zu und fühlte mich schon ein bisschen besser. Sie setzten das Messer an. Ich schloss trotzdem die Augen.

»Ich wünschte ... ich wünschte, ich wäre erwachsen, und das mit der Liebe wäre ganz einfach.«

Das Komische war, als alle Fotos geknipst worden waren und alle die Gläser auf das Brautpaar erhoben hatten, fühlte ich mich tatsächlich irgendwie anders, auf eine merkwürdige Art und Weise. Ich schob es auf die wundersame Veränderung, die angeblich in einem vorgeht, wenn man erwachsen wird, so ähnlich, wie eine eigene Sozialversicherungsnummer zu bekommen. Eine Veränderung, von der ich bisher allerdings noch nichts bemerkt hatte.

Doch jetzt hatte mich ein Mann berührt. Ich war eine Frau. Ich hatte eine Entscheidung getroffen wie eine erwachsene Frau. Also würde ich mich auch wie eine benehmen. Und außerdem wollte ich ihn natürlich auf gar keinen Fall verlieren.

Ich steuerte schnurstracks auf Clelland zu, der in seinem schwarzen Shirt, auf dem er bestanden hatte, völlig deplatziert wirkte, schleifte ihn auf die Tanzfläche und küsste ihn wie eine richtige Frau.

Erst Jahre später ist mir aufgegangen, wie unsagbar kindisch und peinlich das damals für unsere Familien gewesen sein muss.

Und die eigene Familie lässt einen so was natürlich nie vergessen. Mein Dad war gerade bei Tashys Hochzeitsparty eingetrudelt, mit Verspätung und schon leicht angesäuselt. Schwung- und geräuschvoll kam er auf Olly, Clelland und mich zu.

»Hallo, Clelland junior! Schön, dich zu sehen! Sag mal, du versprichst mir doch, mein Mädchen heute Abend nicht in aller Öffentlichkeit abzuschlabbern, oder? Nicht wie bei gewissen anderen Hochzeiten, die ich hier erwähnen könnte.« Er klopfte ihm auf die Schulter und schnaubte vor Lachen.

Olly spitzte die Ohren.

»Dad!«, protestierte ich und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. »Das ist doch Jahre her.«

»Ich werde mir Mühe geben«, erwiderte Clelland, der das offensichtlich lustig fand.

»Hallo, Mr. Scurrison«, sagte Olly.

Mein Dad ist immer ein bisschen unhöflich zu Olly. Ich weiß nicht, warum, aber mein Dad tut ja auch immer so, als könne er alle gut leiden, hat aber den meisten Leuten gegenüber eine vorgefasste Meinung, zum Beispiel was den Schauspieler Jim Davidson oder Tony Blair angeht.

»Oh, hallo, Oliver. Hatte Sie gar nicht gesehen. Haben Sie abgenommen?«

Das war nicht fair. Olly konnte schließlich nichts dafür, dass er inzwischen etwas mehr als nur ein kleines Bäuchlein angesetzt hatte. Wir machten alle Überstunden, und wenn man so gut wie gar nichts zu essen bekommt und sich dann an Würstchen satt essen muss, dann können die Dinge schon mal aus dem Ruder laufen. Aber er sah in seinem Anzug wirklich gut aus.

»Ahm, nein. Wie geht es Ihnen?«

»Mit geht es gut, sehr gut! Aber ihr müsst dafür sorgen, dass ich Floras Mutter nicht über den Weg laufe.«

Ich verzog das Gesicht. Mir ist schon klar, wie wichtig es für meinen Vater ist, so zu tun, als sei die Trennung meiner Eltern bloß eine komische Farce a la »Hoppla, Herr Pfarrer, wo ist denn mein Schlüpfer?«, aber das heißt noch lange nicht, dass ich das gut finden muss. Schließlich war ich diejenige, die in ihrem ersten Semester an der Uni zu Hause anrufen und sich anhören musste, wie meine Mutter fünfundvierzig Minuten lang ununterbrochen schluchzte. Ich bin diejenige, die ausnahmslos jeden Abend zu erreichen sein muss, weil sie sonst die Polizei ruft. Das einzige Kind einer neurotischen Mutter zu sein, ist noch weitaus weniger spaßig, als es sich anhört. Und es war seine Schuld.

Wieso, frage ich mich, müssen so viele Ehen nur derart schrecklich enden? »Wir warten bloß noch, bis die Kinder aus dem Haus sind.« Was bitte soll das denn heißen? »Wir warten bloß ab, bis unsere Kinder ihre ersten unsicheren Schritte in die Welt hinaus machen, ihre eigene Persönlichkeit und Identität entwickeln und zum ersten Mal allein leben, und dann bringen wir ihre ganze Welt zum Einsturz?«

Ich hatte meinem Dad verziehen. Wobei einem natürlich eigentlich gar keine andere Wahl bleibt, es sei denn, man nimmt in Kauf, dass das Ganze in eine Blutfehde ausartet, die ihren Hass über alle kommenden Generationen ausschüttet. Ich kann dazu nur sagen: Sie war 29, es hielt sechs Monate, und hinterher wollte er selbstredend wieder zurück nach Hause. Er hat mir gesagt, das sei seine letzte Chance gewesen, noch mal was anderes auszuprobieren, und ich würde es verstehen, wenn ich älter sei, und wissen Sie was, manchmal, wenn ich mir mein Leben so anschaue und wenn ich ganz ehrlich bin, dann kann ich das tatsächlich.

Ich war hin und her gerissen, als meine Mutter ihn nicht mehr wiederhaben wollte. Ein Teil von mir wünschte sich bloß, alles möge sich in Wohlgefallen auflösen und mit meinen Eltern würde alles wieder, wie es früher einmal war, oder noch besser, so wie ich es mir immer erträumt hatte, mehr wie bei Familienbande als bei Eine schrecklich nette Familie. Aber ich war froh, dass sie es nicht machte. Ich war froh, dass sie standhaft blieb. Denn obwohl ich keine zwanzig Jahre Ehe auf dem Buckel hatte und nicht viel über das Leben wusste (auch wenn ich damals wohl dachte, ich wüsste so ziemlich alles), wäre ich selbst der Liebe meines Lebens gegenüber gerne genauso unnachgiebig gewesen wie sie.

Und dann sah ich sie hereinkommen, beschloss aber, mich unsichtbar zu machen, bis ich Dad losgeworden war. Als ich ihre Silhouette bemerkte, fiel mir plötzlich auf, wie alt sie aussah. Mein Vater wirkte wie ein fröhlicher, untersetzter, allmählich kahl werdender Mann mittleren Alters, von denen es in Großbritannien schätzungsweise zehn Millionen gibt. Gutes Beamtenmaterial. Meine Mutter dagegen war schrecklich dünn für ihr Alter - ich versuchte immer, sie für Milkshakes zu begeistern, wegen dieser Sache mit der Osteoporose - und ging, als habe sie ständig Schmerzen. Wenn man genau hinsah, bekam sie schon einen Buckel. Wenn die Welt um einen herum erst mal zusammengebrochen ist, dann gibt es kein Zurück mehr, glaube ich. Für sie jedenfalls nicht. An die unbeschwerte, natürliche Art und Weise, wie meine Mutter und ich miteinander umgegangen sind, als ich noch ein Teenager war - so ganz normal mit Schmollen und Eingeschnapptsein und Türenknallen -, kann ich mich kaum noch erinnern. Und jetzt kommt sie mir mehr wie ein uraltes Hausmütterchen vor, das niemandem mehr über den Weg traut.

Mein Gott, Tashy war damals echt super. Ich wusste nicht, was schlimmer war: meinen Dad zu verlieren oder Clelland. Außerdem suhlte ich mich so sehr in meinem eigenen Unglück, dass ich meiner Mom in dieser schweren Zeit keine große Stütze war, und das werde ich mir wohl nie verzeihen. Feierlich zerrissen Tash und ich Clellands Briefe (die ich trotzdem weiterhin las: Ihm ging es hervorragend. Ich bekam insgesamt nur drei Stück, weil ich auf keinen davon antworten konnte. Was hätte ich denn schreiben sollen? »Lieber Clelland. Mein Leben ist Scheiße. In Liebe, Flora«?). Ich zog den Kopf ein und versuchte, darüber hinwegzukommen, und seither hatte ich mich nach Kräften bemüht, meinen Spaß zu haben. Wenn ich mir Ol so ansah, hatte ich ernste Zweifel, ob es mir gelungen war.

Es war kein gutes Alter für mich. Ich dachte, ich würde für den Rest meines Lebens allein sein, weil niemand mich jemals lieben könnte. Denn wenn man nur zwei Männer liebt und die einen zur gleichen Zeit verlassen, ist das kein gutes Zeichen.

Es gibt einen einleuchtenden Grund, weshalb wir unsere erste große Liebe nie vergessen, wie Tashy mir immer wieder geduldig erklärt hat. Unsere jungen Körper, in denen es von Hormonen nur so wimmelt, haben so was noch nie zuvor erlebt. Unser Gehirn weiß nicht, wie ihm geschieht. Nach dem ersten Mal ist man zumindest ein bisschen gewarnt vor diesem megaharten Tripelhammer, der einem in Kopf, Herz und Hose knallt. Man versteht, was da vor sich geht, selbst wenn man es dadurch auch nicht viel besser kontrollieren kann als mit sechzehn.

Und dann muss man noch eins dazusagen: Wenn die erste große Liebe einen heftig auf den Mund küsst und danach einfach verschwindet (oder nach Aberdeen geht, was aufs Gleiche hinausläuft) und in den Ferien in der ganzen Weltgeschichte herumreist, und man dann nach Bristol geht, ist es schwer, die ganze Geschichte zu verdauen. Man hat nicht zugesehen, wie er alt oder fett wurde oder alles versaut, und ist auch nicht, Gott bewahre, bei ihm geblieben und hat miterleben müssen, wie die Liebesglut langsam erlischt. Und wenn man dann älter wird und die unvermeidlichen Kompromisse der wahren Liebe kennen lernt, ist es sehr schwer, nicht an das glatte, jungenhafte Gesicht und das unschuldige Schmetterlingsflattern im Bauch zu denken, vor allem, wenn man sich einbildet, der andere könnte genauso empfinden.

Oder sich vielleicht auch bloß noch an einen erinnern.

Wir standen alle auf, um die Reden über uns ergehen zu lassen. O Gott, Max, nein, bitte nicht.

»Was haben Frauen und Computer gemeinsam?«, setzte er schwerfällig an, und man spürte förmlich, wie das Publikum sich seelisch darauf vorbereitete, über etwas lachen zu müssen, das nicht im Geringsten komisch war.

»Man kann sie jederzeit anmachen ...«

Clelland warf mir immer wieder verstohlene Blicke aus dem Augenwinkel zu, und ich konnte mir nicht helfen, ich war ebenfalls sehr neugierig.

»Dreieinhalb Zoll Floppy Disks ...«, grölte Max.

»Hab ich‘s mir doch gleich gedacht, dass du das bist!«, rief meine Mutter laut und viel zu munter. Sie tauchte aus dem Nichts auf, hatte zu viel Puder im Gesicht und wirkte nervös.

»Ich bin deine Tochter«, entgegnete ich ziemlich schnippisch. »Da besteht doch wohl keine große Verwechslungsgefahr.«

»Meine Güte, so habe ich das doch nicht gemeint. Ich meinte bloß ... wo hast du denn gesteckt? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Unsicher blickte sie sich um. Ich tat es ihr gleich und hielt instinktiv nach Dad Ausschau. Wenn er ihr zu nahe kam, fing sie an zu zittern.

»Ich habe nur ein bisschen mit den Leuten geplaudert«, erwiderte ich. Ich wollte ihr Clelland nicht noch mal vorstellen. Ich hatte mit meiner Mutter mehr als genug emotionsgeladene Zeiten durchgemacht. Ich wollte nicht, dass sie sich meinetwegen aufregte.

»Na gut. Aber geh nicht so weit weg, ja, Schätzchen? Ich kenne doch kaum jemanden hier. Ich weiß überhaupt nicht, weshalb Tashy mich eingeladen hat. All diese jungen Leute!«

»Nun sei aber nicht albern, Mum. Du kennst doch Tashys Eltern!« Und genau in diesem Augenblick winkte Jean uns zu. »Na, siehst du!«

»Aber sie sind doch die Eltern«, sagte meine Mutter, als redete sie mit einer Schwachsinnigen. »Die haben bei Hochzeiten immer alle Hände voll zu tun. Na ja, heißt es jedenfalls. Wer weiß, hm?«

Auf diese erste derartige Bemerkung hatte ich schon gewartet. Eigentlich wunderte ich mich, dass sie so lange auf sich hatte warten lassen. Dann wurde mir klar, dass Clelland so dicht neben uns stand, dass er jedes Wort verstehen konnte.

»Ahm, ja, Mum.«

»Du und dieser nette Kerl. Ihr passt so gut zusammen. Und ihr seid schon so lange ein Paar! Ihr müsst die Nächsten sein. O ja, ich glaube, bei uns wird es demnächst auch eine Hochzeit geben. Schätzchen, stell dir das doch nur mal vor! Das wäre so schön! Wir könnten alles zusammen organisieren.« Und dann tätschelte sie mir den Arm, ganz sicher, um mich zu beruhigen. Ich sah, wie Clelland die Stirn runzelte.

»Ach! Da bist du ja, Olly! Hallo, mein Schatz! Hier ist Mummy!«

Im Gegensatz zu meinem Vater vergöttert meine Mutter Olly, und er ist immer sehr freundlich zu ihr, das muss man schon sagen. Ich glaube, er weiß, dass er, weil ich keine Brüder habe, der einzige Mann im Leben meiner Mutter ist, vom Briefträger mal abgesehen, also ist er immer sehr nett zu ihr. Sie ist bloß ein bisschen - oder vielmehr sehr - anhänglich.

Aber dieses »Nenn mich Mummy«-Getue muss endlich aufhören. Wirklich.

»Hallo, Mummy«, sagte Ol, beugte sich zu ihr und umarmte sie. Ich glaube, was mir am meisten auf den Wecker geht, ist die Tatsache, dass Olly sich besser mit meiner Mutter versteht als ich. Und umgekehrt auch. Manchmal denke ich, die beiden wären ohne mich viel besser dran.

Meine Mutter drehte sich zu mir um. »Sag jetzt nichts, Liebes!«, raunte sie mir zu.

Clelland beugte sich herüber. »Willst du mich ›Mummy‹ nicht noch mal vorstellen?«, fragte er mit einem Funkeln in den Augen.

»Wahrscheinlich hat sie dich gar nicht erkannt«, sagte ich. »Nachdem du damals einfach verschwunden bist.«

»Was soll das denn heißen?«

»Du. Bist. Verschwunden. Nach Aberdeen. Schon vergessen?«

Er stutzte. »Ich habe nicht vergessen, dass du keinen meiner Briefe beantwortet hast.«

»War viel los in diesem Sommer.«

»Das kannst du laut sagen«, murmelte er mit verärgertem Gesicht.

»... spielt mit deinem Joystick«, grölte Max.

»Du heiratest also?«

Ich zuckte die Achseln. »Guter Gott, nein ... ich meine, vielleicht, ich habe mich noch nicht entschieden ...«

»Hat er dich noch nicht gefragt?«

»Darum geht es nicht.«

»Willst du ihn gegen seinen Willen dazu zwingen?«, erwiderte er und grinste.

»Nur wenn es unbedingt nötig ist. Und dann auch bloß mit Gewehren und Hunden und so, nichts Schlimmes.«

»Das brauchst du bestimmt nicht. Du solltest heiraten.«

»Seit wann bist du denn Fachmann auf dem Gebiet?«, fragte ich, plötzlich leicht in Panik.

Warum war ich in Panik? Das war doch lächerlich. Und außerdem trug er keinen Ring. Das hatte ich schon abgecheckt.

»Ich denke gerade darüber nach.«

»Ach ja? Wer ist denn die Glückliche? Haggis McBaggis, die berühmte Fischerin aus Aberdeen?«

»Hallo«, sagte ein bildhübsches dunkelhaariges Mädchen, das plötzlich aus dem Nichts neben uns aufgetaucht war.

»Wer ist das denn?«

»Na ja, manchmal fischt sie«, erklärte Clelland, »aber bloß nach Komplimenten. Das ist Madeleine.«

»Was erzählst du da über mich?«, fragte sie. »Ignorieren Sie ihn einfach, er ist unglaublich unhöflich.«

»Siehst du?«, sagte Clelland.

»Du wirst nachher richtigen Ärger bekommen.« Und dann kitzelte sie ihn an der Nase.

»Wunderbar«, sagte er.

Was ist das denn für ein Flittchen, muss ich gestehen, habe ich bei mir gedacht.

»Sind die ersten vier Jahre einer Beziehung immer die schlimmsten?«, fragte Madeleine. »Bitte sagen Sie mir, dass es so ist. Ich glaube, lange halte ich das nämlich nicht mehr aus.«

Und Clelland legte einen seiner starken Arme um sie und zog sie an sich.

»Na ja, wenn wir erst wieder in Afrika sind, wird alles ganz anders«, sagte sie.

Ob es wohl mein Schicksal war, bei allen Partys letzten Endes immer am Springbrunnen zu landen? So schnell es mein Anstandsgefühl zugelassen hatte, war ich hinausgeschlüpft und hatte mich verdrückt, obwohl ich hörte, wie meine Mutter in diesem quengeligen Tonfall, den sie immer draufhat, wenn sie sich aufregt, Leute nach mir fragte. Zweimal täglich mit ihr zu telefonieren reichte mir eigentlich dicke. Ich nahm mein Champagnerglas und schlenderte den Pfad hinunter. Alle auf Hochzeiten spezialisierten Landgasthäuser haben Springbrunnen. Die gehören da zum Inventar.

Wie damals tauchte ich auch jetzt die Hand ins Wasser und versuchte nachzudenken. Warum - warum nur fühlte ich mich so? Ich zitterte ja beinahe. Und mein Kopf schwamm vor Scham und Angst und nacktem Elend, und ich wusste nicht einmal, warum. Was war denn bloß los mit mir? Ich reagierte ungemein heftig auf etwas, das fast jeden Tag passierte. Ich hatte nach langer Zeit jemanden wieder getroffen, der mir mal was bedeutet hatte. Und wenn schon! Lieber Himmel, das war mittlerweile sechzehn Jahre her. Die Zeit zwischen dem letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte, und heute war genauso lang wie die Zeit zwischen meiner Geburt und meiner ersten Verabredung. Himmel, war das grausam. Dieser ganze Sommer war ein Abschnitt meines Lebens, den ich nach Möglichkeit verdrängte.

Ich dachte im Moment ganz sicher nicht wie eine Erwachsene, wie ein vernünftiger, glücklicher Mensch. Ich nippte an meinem Champagner und spürte einen dumpfen Kopfschmerz vom Grunde meines Herzens aufsteigen, so einen Kopfschmerz, wie man ihn als Kind kriegt, wenn man was richtig Schlimmes angestellt hat und weiß, dass man sich gewaltigen Ärger eingehandelt hat. Es ist nicht leicht, sein eigenes Gewissen zu ignorieren. Während ich da am Brunnen saß, war mir das völlig klar. Wenn ich nicht wie mein Vater enden wollte - unzufrieden, immer auf der Suche nach was Besserem wenn ich mich nicht lächerlich machen wollte, und noch viel wichtiger, wenn ich einem guten, anständigen Mann, der mich liebte, nicht sehr wehtun wollte, dann -

»Ach, hier steckst du«, sagte Olly. »Ich habe dich schon überall gesucht. Ich sterbe vor Hunger.«

Er setzte sich und streifte sich ein paar Sesamkörner von der Weste, die er gekauft hatte, um seinen kleinen Dickwanst zu kaschieren.

»Na du«, sagte ich, und die Nervosität stieg mir blubbernd in den Hals. Ich konnte sie schmecken. O Gott. Wie konnte das bloß so schnell passieren? Eben waren wir noch ein glückliches Paar gewesen, das zusammen wohnte, und jetzt war ich kurz davor ...

Na ja, so glücklich waren wir eigentlich gar nicht, oder doch? Zumindest ich nicht, mit meinem egoistischen, kindischen Dickkopf und meinem Verlangen, immer die süßeren Kirschen zu bekommen, und mit meiner Neigung, mein Leben zu verträumen: Olly hatte überhaupt keine Chance. Herrje, ich war echt ein Miststück.

Olly beugte sich unsicher nach vorn.

»Was machst du denn da?«, fragte ich peinlich berührt.

Es sah aus — nein, das konnte nicht sein. Bitte sagt mir, dass es nicht wahr ist. Er geht nicht auf die Knie. Bitte nicht.

Einen Augenblick stierte ich ihn nur starr vor Schreck an, und er muss den Schreck in meinen Augen gesehen haben, der sich dann auf einmal in seinen Augen widerspiegelte, die plötzlich ziemlich panisch wirkten.

»Pass auf, ich weiß, dass wir uns nicht immer so gut verstehen ...«, setzte er an (kein guter Anfang für so was, fand ich).

»Flora!«, kreischte da eine andere Stimme.

Es zeugt nur von meiner Unreife und Dämlichkeit, dass ich im ersten Moment dachte, es sei Clelland, der da angelaufen kam, weil ihm im selben Augenblick, als er mich gesehen hatte, klar geworden war, wie blöd er doch damals gewesen war, und der nun in letzter Sekunde dazwischenplatzte, um mich zu retten, zu retten vor diesem Leben, das ich mir gewünscht hatte, nun aber nicht mehr wollte.

Er war es natürlich nicht. Es war meine Mutter. Die beiden klangen nicht gerade zum Verwechseln ähnlich, aber ich war im Moment nervlich äußerst angespannt und ein bisschen gefühlsduselig. Wie dem auch sei, in diesem Augenblick war ich froh, sie zu sehen. Sie kam den Hügel herunter und wirkte zerbrechlich und verwirrt. Manchmal fragte ich mich, ob sie bereits Alzheimer hatte.

»Flora, Schätzchen, wo steckst du denn? Wir brauchen dich!« Ihr Tonfall klang nörgelig. »Sie schneiden jetzt die Torte an.«

Olly stand auf und strahlte sie mit einem breiten, aufgesetzten Lächeln an. »Hallo, Mummy!«

»Oh, hallo, ihr beiden Turteltäubchen. Ich dachte mir, den Teil würdet ihr ungern verpassen. Und du musst dir unbedingt die Torte ansehen, Schätzchen. Tashy könnte dir ganz sicher sagen, wo sie die herhat. Man kann ja nie wissen, wann man so was braucht...«

Und dann hakte sie sich bei uns beiden unter, während wir uns anschauten - er mich wehmütig, ich ihn vermutlich entsetzt und dann marschierten wir alle zusammen den Hügel hinauf zum Haus.

Die Torte war wirklich eine erstaunliche Angelegenheit, etwas wackelig und völlig mit Rosen überzogen. Tashy grinste schon wieder ziemlich entsetzt, und Max sah aus, als würde er langsam sauer, weil er dauernd versuchte, sie dazu zu bringen, ihre Hand auf dem Messer unter seine zu legen anstatt darauf.

Ich warf einen Blick zu Clelland, der mit seiner liebreizenden Freundin in ein Gespräch vertieft war. War doch klar. Vermutlich planten sie schon ihr nächstes Abenteuer. Und man müsste ein wahrlich böser Mensch sein, ihnen nicht alles Gute zu wünschen. Wo sie doch so glücklich aussahen.

Ich schluckte schwer. Ich war 32 Jahre alt. Und auf einmal kam es mir vor, als sähe ich alle Menschen um mich herum wie in einem Kokon aus Liebe und Zuneigung. Und draußen, von ihnen unbemerkt, stand ich. Und meine Mutter. Und mein Vater. Die Geister dieses Festes. Die Menschen, die nicht die richtigen Entscheidungen getroffen hatten. Die bei jemandem geblieben waren, den sie eigentlich nicht liebten, aus Angst vor dem Alter. Oder nur aus Angst. Nein, es war noch schlimmer - meine Mum und mein Dad hatten sich mal geliebt. Ich war die Einzige, die einen anständigen Mann hatte, ihn aber nicht lieben konnte. Ich hatte es versäumt, mich zu setzen, als die Musik aufgehört hatte. Ich kriegte den Trostpreis. Ich schluckte ein paar bittere Tränen herunter, die aus purem, abstoßendem, alles verschlingendem Selbstmitleid in mir aufstiegen.

»Herrgott, was ist bloß los mit dir?«, fragte Olly. »Willst du mit aller Gewalt die Aufmerksamkeit auf dich ziehen?«

Tashy und Max setzten das Messer an.

»Schätzchen, Schätzchen, was soll denn das?« Meine Mutter zupfte mich am Ärmel. »Willst du eine von meinen Pillen? Ich habe ein paar in meiner Handtasche. Sollen wir rausgehen?«

Mir liefen die Tränen inzwischen in Strömen übers Gesicht.

»Heiliger Himmel«, zischte Olly mich streng an. »Reiß dich endlich zusammen. Die Leute gucken ja schon.«

Clellands und meine Blicke trafen sich. Na ja, vielleicht war das auch bloß, weil ich ihn mit weit aufgerissenen, tränenverschleierten Augen anstarrte. Er machte eine fragende Geste mit den Händen.

»Was?«, formte er mit den Lippen. »Was ist los?«

Er wirkte nicht gerade erfreut, dass ich drauf und dran war, eine Szene zu machen. Seine Freundin sah angestunken aus, und das zu Recht. Das glückliche Brautpaar war zu weit weg, um etwas zu bemerken, aber ich konnte nichts dagegen tun, dass mir die Tränen auf den Karen-Millen-Anzug liefen, und ich machte ganz zweifellos eine Szene. Aber der Kloß in meinem Hals wollte einfach nicht weggehen.

Dann schnitten sie die Torte an.

»Ich wünschte«, flüsterte ich lauter als beabsichtigt.

»Was?«, sagte Olly. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Flora.«

Ich schluckte.

»Ich wünschte, ich wäre wieder sechzehn.«